#29: Über den Unterschied zwischen Opposition und Demokratiefeindlichkeit

Es ist immer notwendig, eine Regierung zu kritisieren. Kritik bedeutet aber nicht nur Ablehnung als solche. Jede Ablehnung muss auch begründet werden, im Idealfall auch mit einem Vorschlag zur Alternative. Das unterscheidet kritisches (also „unterscheidendes“) von unkritischem, politisches von unpolitischem Denken.

Einfach nur „nein, das ist dumm“ oder „nein, ich will das nicht“ zu sagen, ist keine Kritik, sondern nur Jammern. Warum ist etwas „dumm“, warum will man etwas nicht, und was sollte stattdessen gelten, und warum – angesichts einer Analyse dessen, was ist, nicht dessen, was man denkt, was sein sollte.

Einige Beispiele:

  • Zur Ablehnung von Außenministerin Baerbock’s Betonung der Notwendigkeit einer moralischen Außenpolitik: Sicher klingt vieles, was Baerbock sagt, manchmal vereinfachend, vielleicht naiv. Allerdings stellt sich doch heutzutage die zentrale Frage, wie der Westen das Vertrauen in seine Politik und sein Politikmodell verspielt hat, und wie es wieder zurückgewonnen werden kann. Wie können nicht Werte predigen, sie aber nicht praktizieren. Welche Werte? Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Ablehnung von Eroberungskriegen, Ablehnung von Völkermord (tatsächlichem, nicht nur behauptetem!), Anerkenntnis der Verantwortung unserer Kolonialgeschichte, etc. Was ist davon abzulehnen? Was haben wir denn sonst anzubieten? Was unterscheidet uns denn sonst von Wettbewerbern, denen Moral egal ist (VR China, Russland, Iran etc.)? Sicherlich könnte die Bundesregierung alles besser begründen, aber dennoch: Was sollte denn konkret anders gemacht werden? Soll Russland für seinen völkermörderischen Angriffskrieg belohnt werden? China für seine Unterdrückung Hong Kongs, seinen Völkermord in Xinjiang und Tibet, seine Drohungen gegen Taiwan, seine Pandemiepolitik? Iran für die Unterstützung der Hamas und des geplanten (und am 7. Oktober begonnenen) Völkermordes in Israel?
  • Zur Ablehnung der Gendergerechten Sprache: Ja, das kann durchaus etwas seltsam sein, wenn man (meistens Mann) sich sprachlich neu orientieren soll. Aber man kann die Kritik schon übertreiben. Wer sagt denn noch „Liebe Herren“, wenn man vor einem gemischten Publikum spricht? Sagt man nicht schon seit langem „Liebe Damen und Herren“? Das ist auch schon „gendern“ – es handelt sich hierbei um nichts anderes als Höflichkeit und sprachlicher Anerkennung der gesellschaftlich gewollten Realität, dass wir Geschlechterdiskriminierung ablehnen. Was ist die Alternative? Diskriminierung? Aha.
  • Zur Ablehnung der Anerkennung gleichgeschlechtlicher und transsexueller Menschen: Wer sicht als homo-, bi-, trans-, a-, inter-, oder allgemein andersgeschlechtlich empfindet, tut dies in der Regel nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil sie nun einmal so sind, wie sie sind. Das ist eine individuelle Entscheidung, sein Leben so zu leben, wie es seiner eigenen Identität entspricht, und nicht sich unterordnen zu müssen unter einer erzwungenen Zweigeschlechtlichkeit (Heteronormativität). Man weiß meist im angehenden Teenageralter, „was“ man ist. Biologie ist nicht so binär, wie manche behaupten – und Geschlechtlichkeit hat immer auch eine kulturelle Komponente („Gender“ beschreibt im Gegensatz zu „Sex“ die geschlechtliche Identität ganzheitlich als Mischung biologischer Realitäten und kultureller Muster, während „Sex“ nur Fortpflanzungim Auge hat). Konkrete Probleme wie z.B. Transfrauen im Frauensport lassen sich z.B. durch die Einführung neuerer und besserer Wettbewerbskategorien lösen (analog zu „Gewichtsklassen“ beim Boxen und Westling). Die Ablehnung und Dämonisierung diverser geschlechtlicher Identitäten führt leider nach wie vor zu viel Leid und Gewalt – wer will bitte derartige brutale Diskrimierung unterstützen? Nach wie vor müssen sich viele nicht-heteronorme Menschen vor Diskriminierung verstecken. Ist das wirklich etwas, was wir unterstützen wollen? Hier muss sich die Gesellschaft im übrigen dann aber auch konkret gegen homo- und transphobe Ansichten und Handlungen stellen, egal von welcher Bevölkerungsgruppe sie ausgehen.
  • Rassismus: Ja, es gibt ihn, und nein, es ist nicht jedem bewusst, wenn man rassistische Gedanken äußert. Wer in einem homogenen Umfeld aufgewachsen ist, hat nun einmal gewisse Stereotype internalisiert. Das ist nicht notwendigerweise böse, es ist einfach so. Unsere Gesellschaft ist wieder etwas vielfältiger geworden, nachdem sie von den Nazis ethnisch und „rassisch“ „gesäubert“ wurde durch den Völkermord an allen, die für weniger wert, weniger „deutsch“ erachtet wurden. „Deutschland den Deutschen“ ist immer ein Nazispruch, egal, wie sehr sich einige AfD-Offiziellen winden. „Rasse“ gibt es im biologischen Sinn nicht. Wir alle haben eine viel vielfältigere Abstammung, als wir manchmal denken mögen. Deutsch ist, wer deutsche Personaldokumente hat. Eine kritische Perspektive gegenüber ausgrenzenden Sprüchen und Worten ist eine Frage der Höflichkeit und der Menschenfreundlichkeit. Ja, das klingt „woke“ – na und? Es geht dabei um nichts anderes, als seinen Mitmenschen zu respektieren, und um nichts anderes.
  • Asylpolitik und Flüchtlingspolitik: Unsere Grenzen sind nicht offen, aber sie sind durchlässiger als geplant. Naive „Wir haben Platz“-Sprüche sind in der Tat ein Problem, aber all das ändert nichts daran, dass der Westen nun einmal attraktiv für Flüchtlinge und Einwanderer ist – wegen unserer Demokratie, unserer Freiheiten, unserem Wirtschaftssystem, wodurch gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftlicher Aufstieg möglich werden. Außerdem sind unsere Geburtsraten zu niedrig, wir brauchen Einwanderung. Ablehnung von Einwanderung löst also keine Probleme. Ignorieren von Problemen hilft aber auch nicht: Wohnungsmangel, gelegentlich mangelhafte Integration in unserer demokratisches Wertesystem, und ja, auch gelegentlich Kriminalität – all dies tritt aber auch bei sogenannten „Biodeutschen“ (ich mag das Wort absolut nicht) auf. Wie löst man das? Wohnungsbau, Bildung, konkrete Integrationspolitik, Bekämpfung jeglicher Kriminalität – und, ja, auch, Entwicklungspolitik. Konkrete Probleme brauchen konkrete Lösungen, und nicht nur Spruchsammlungen aus der Mottenkiste.

Soviel dazu. Vieles, was wir an Ablehnung hören, ist nicht konkret und wirksam genug, um die angesprochenen Probleme zu lösen, und ist nur ein unpolitischer Abwehrreflex. Opposition muss immer konkret bleiben.

Wir müssen wieder politischer denken, im Theoretischen wie auch im Praktischen. Ansonsten richten wir es uns in unseren Gefühlen und Ressentiments behaglich ein während um uns herum die Demokratie schwächer wird – die Alternative dazu ist aber keine bessere Demokratie, sondern die Herrschaft derer, welche demokratische Prinzipien ablehnen. Wozu das führt, kann man in Russland und China besichtigen – vielleicht sollten das die Fundamentalkritiker von der reaktionären „Alternative für Deutschland“ und dem Querfront-Sammelbecken „Bündnis Sahra Wagenknecht“ mal bedenken.

(For an English version in an American context, please see erraticattempts.com)

1 Kommentar zu „#29: Über den Unterschied zwischen Opposition und Demokratiefeindlichkeit“

Kommentare sind geschlossen.