
Wenn freiwillig ungeimpfte einen Judenstern mit der Bezeichnung „ungeimpft“ tragen, sind folgende Überlegungen anzustellen:
1. Ist die Kategorie „ungeimpft“ eine Identität, die vergleichbar ist mit der in den Nürnberger Rassengesetzen definierten Kategorie „Jude“?
Nein. Es steht jedem frei, sich impfen zu lassen oder nicht. Selbst bei einer Impfpflicht wäre dies der Fall, weil Impfpflicht nicht gleichzusetzen ist mit Impfzwang. Die nationalsozialistische Diskriminierung von Menschen als „Juden“ beruhte nicht auf Freiwilligkeit, hatte nichts zu tun mit dem Verhalten der diskriminierten Gruppen, und basierte auf antisemitischen und pseudo-wissenschaftlichen rassentheoretischen Überlegungen. Ebenso hat die Ausgrenzung von Juden eine lange Geschichte. Die Idee der „Endlösung“ der sogenannten „Judenfrage“ unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ist gewissermaßen als dann auch in die Tat umgesetzter Versuch zu verstehen, jüdisches Leben, jüdische Identität, jüdische Abstammung und jüdisches Denken zu vernichten – unabhängig davon, ob die Person sich tatsächlich also jüdisch identifizierte oder die jüdische Religion praktizierte. Keiner von den Nazis aus identitären Gründen verfolgten Person stand es frei, sich durch anderes Verhalten der Verfolgung zu entziehen.
2. Werden freiwillig ungeimpfte wie diejenigen behandelt, die von Nazis als „Juden“ gekennzeichnet wurden?
Nein. Die sogenannte Diskriminierung von Ungeimpften hat rein medizinische und gesundheitspolitische Gründe, und die Maßnahmen dienen der Bekämpfung einer globalen Pandemie. Den Nazis ging es um die Vernichtung von Leben, das als nicht lebenswert angesehen wurde. Bei den Pandemiemaßnahmen geht es um den Schutz von Leben, das dem Risiko von schwerer Krankheit und Tod ausgesetzt ist. Dieser Schutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gerade weil in unserem Grundgesetz die Würde des Menschen unantastbar ist. Medizinische Quarantäne- und Pandemiebekämpfungsmaßnahmen mit einem organisierten Völkermord gleichzusetzen ist falsch. Dadurch wird – ob bewusst oder unbewusst – der Holocaust nicht nur nicht verstanden, sondern trivialisiert und in seiner Dimension sogar verleugnet.
3. Muss man sich als Demonstrant genaue Gedanken über derartige Zusammenhänge machen?
Wenn man sich als Demokrat versteht, gehört dazu, sich gründlich zu informieren und seine staatsbürgerlichen Pflichten als Souverän ernst zu nehmen. Das Versammlungsrecht dient der politischen Willensbildung. Dies heißt, dass man verantwortlich damit umzugehen hat. Hat man das Recht, uninformiert zu sein? Selbstverständlich. Hat man das Recht, dass das eigene Verhalten und das eigene Uninformiertsein nicht kritisiert werden? Selbstverständlich nicht.
Ob jeder freiwillig ungeimpfte, der sich einen solchen Judenstern anheftet, tief im Herzen antisemitisch eingestellt ist, kann ich nicht sagen. Die Handlung aber ist eindeutig antisemitisch. Sie verleugnet die Realität des Holocausts (siehe 1. und 2.). Man sollte sich also durchaus fragen, ob solch ein Verhalten akzeptabel ist – und ob man dies tolerieren oder sogar verteidigen sollte.